Ein Wort vorneweg, falls hier Reenactor oder seriös-ambitionierte Kostümer mitlesen sollten: mir geht es nicht um ein authentische Darstellung einer Person der Jahrhundertwendezeit, ich weiß, dass ich das mit meinen Mitteln (auch was meine Nähfähigkeiten angeht) nicht erreichen kann. Und das ist auch nicht mein Ziel. Einige der Kleidungsstücke, die ich hier zeige, sind aber immerhin nach historischen oder historisch informierten Schnitten entstanden und für mich war schon das ein sehr interessantes Erlebnis: auszuprobieren, wie es sich anfühlt, diese Kleidungsstücke zu tragen, sich darin zu bewegen und ja: darin Rad zu fahren.
Was hat es mit dem Radfahren auf sich (nein, keine Angst, nicht schon wieder ein Tweedride 😉 – oder zumindest nicht im engeren Sinne). Der Prater Wien (und zwar nicht der grüne Parter sondern der Wurschtl-Prater, also der Vergnügungspark mit dem Riesenrad) hatte 250 Jahr- Jubiläum, und zu diesem Anlass wurde nach einer alten Tradition ein Blumencorso mit blumengeschmückten Kutschen, Traktoren und vor allem Oldtimern organisiert. Sehr gut gekannt haben dürften die Parter-Leute diese Tradition allerdings nicht, denn der erste Blumencorso war in Wirklichkeit ein Fahrradcorso. Und darauf wollten wir Tweedrider aufmerksam machen und haben deswegen kurz vor (oder besser: kurz nach) Anmeldeschluss uns und unsere Räder noch reinreklamiert. Ja und da dieser Radcorso in den 1890er-Jahren durchgeführt wurde, lag Jahhundertwende-Kleidung nahe.

Blumenhut
Solche Ereignisse gehen bei mir (ich weiß nicht wie das bei Euch ist?) nicht ohne “last-minute-sewing” und so habe ich am Vorabend noch einen Unterrock “erweitert” (um mehr Bewegungsfreiheit zu haben), einen Riss im Überrock genäht und einen Strohhut mittels Heißkleber mit Blumen und Vögeln verziert. Das war das erste mal, das ich was mit Heißkleber gemacht habe und ich muss sagen: ich liebe heißkleben, nichts leichter und lustiger als heißkleben, ich könnte den ganzen Tag immerzu nur heißkleben…(andere Heißklebefans hier?)
Außerdem habe ich mir für den nächsten Tag eine Liste geschrieben, was ich in welcher Reihenfolge vorbereiten will, inklusive was ich in welcher Reihenfolge anziehe (im Ernst! Listen schreiben finde ich fast genauso toll wie Heißkleben). Das habe ich dann auch fotografisch dokumentiert, wollte ich Euch doch endlich mal das Korsett zeigen, das ich bereits letztes Jahr fertiggestellt habe. Nun ist das Problem bei einem Korsett, vor allem einem Unterbrustkorsett: egal was man drunter anzieht (und ja, Korsetts wurden früher nicht auf der Haut getragen), es sieht so eindeutig nach Unterwäsche aus, dass man einfach ein komisches Gefühl dabei hat, sich damit im Internet zu zeigen. Andererseits: was tut man nicht alles für die (historisch interessierte) Nähbloggerinnen-Community…Hier also mein Laughing Moon 113 Unterbrustkorsett als erste Lage (zunächst locker geschnürt, zu meinen Erfahrungen zum Ankleiden ohne Zofe später mehr).

Unterbrustkorsett Laughing Moon 113

Korsett von der Seite

Korsett von hinten
Als zweite Lage kam ein Unterrock (nach der Lektüre dieses Artikels habe ich mir gewünscht, ich hätte mehr als einen) und die Bluse vom Weihnachtskleid 2014.Für den Unterrock habe ich kein historisches Schnittmuster verwendet, und Kostümern werden bei seinem Anblick die Haare zu Berge stehen: ich habe ihn einfach irgendwie genäht und irgendwelche Rüschchen dran gemacht und ihn, als ich realisiert habe, dass er zum Radfahren zu eng sein würde, mittel irgendwelcher “Godets” erweitert. Aber ich glaube, er hat seinen Zweck ganz ordentlich erfüllt: zu wärmen und dem Rock etwas Form zu geben.

nächste Lage: Bluse und Unterrock
Die Bluse wird hinten mittels Häkchen und Bindeband geschlossen. Etwas, was man unmöglich – und hier wird die Schichtspezifität der Kleidung damals sehr eindrücklich – alleine hinbekommt. Ich habe also nur die beiden Häkchen geschlossen, die sich selbst erreichen konnte und habe am Veranstaltungsort auf der Toilette eine nette Dame getroffen, die mir damit geholfen hat und auch das Korsett nochmals festgezogen hat (eigentlich hatte ich in Ermangelung einer Radkollegin einen Radkollegen gebeten, mir zu helfen, der war dann erleichtert (oder vielleicht auch ein klein wenig enttäuscht? ;-))).
Drüber dann der 3-Bahnen-Rock, den ich hier schon einmal gezeigt habe, und ein Second-Hand-Trachtenjäcken was ich als “einigermaßen passend” dazu gekauft hatte.

oberste Schicht: 3-Bahnen-Rock und Wolljäckchen
Ja und weils der kälteste Tag seit 3 Wochen war und werden sollte, drüber noch ein Cape einen falschen Pelz, leichte Strümpfe, warme Strümpfe, Regenschirm, Handschuhe…

gerüstet für dne Blumencorso
Getroffen haben wir uns in einer Messehalle, wo am Tag zuvor alle Fahrzeuge von bestimmt Hunderten von Floristen- und Floristinnenhänden liebevoll und aufwändig geschmückt worden waren.

mein geschmücktes Falke: so schön wird es nie wieder aussehen
Und ein jedes sah anders aus! Großartig!

was für eine Opulenz

mein geschmücktes Falke und ich
Bevor es losging, haben wir noch ein paar Bilder mit ein paar echten Hardcore- Reenactors (oder Theater-Schauspielern?) gemacht, die mit viel mehr Ernst bei der Sache waren als wir Banausen (und uns entsprechend “nicht mal ignoriert haben” wie der Wiener so schön sagt).

Blumencorso – gleich geht es los
Der Corso selbst war dann, ach ich wünschte ich könnte schreiben “großartig, ein einmaliges Erlebnis” denn eigentlich, ich gebs ja zu, ist es einer meiner Kindheitsträume, bei einem großen Umzug mitzufahren, Bonbons zu werfen und alle klatschen und freuen sich. tatsächlich: eher so mittel. Denn erstens: Bonbons werfen war verboten. Zu gefährlich (ich wäre eh überfordert gewesen mit Schirm und Hut und Rad und dann auch noch Bonbons). Zweitens: Der Zug hat sich in langsamem Schritttempo bewegt. Eh gut für die Zuschauer. Für Radfahrer, noch dazu für so bewegungseingschränkte wie mich, eine Katastrophe, ständig auf und wieder absteigen und dazwischen mühsam Schlangenlinien fahren. Drittens: hinter uns fuhr ein Traktor, auf dem eine riesige Plastikstelze montiert war, unter der zwei muntere Gesellen die allerfurchtbarste Pseudovolksmusik zum Besten gegeben haben. Nach einer Stunde nur noch schwer auszuhalten (nein: eigentlich von Anfang an nicht auszuhalten). Viertens: diese Kaiserverehrung bei solchen Anlässen nervt (und erschreckt mich auch, ich möchte dann nicht Teil dieser Veranstaltung sein, sonst denken die Leute noch, ich fände das gut…). Wenns nur irgendein lustiges Nachspielen alter Begebenheiten wäre: meinetwegen. Aber in solchen Momenten, wenn die historisch kostümierte Blaskapelle die alte Kaiserhymne spielt (ihr wisst schon: “Gott erhalte Franz den Kaiser”, die Melodie kennt man irgendwo her ;-)) und alle zum gemeinsamen Hofknicks aufgefordert werden, hat man tatsächlich das Gefühl: hier wollen nicht wenige den Kaiser zurück. Und das ist einfach nur gruselig. Bleiben also eher gemischte Gefühle.

nach der Parade: erschöpft, mit aufgelöster Frisur und glücklich (dass es geschafft ist)
Zuletzt zur vielleicht wichtigsten Frage: wie kann man in Korsett und langem Rock radfahren? Erstaunlich gut. Zwar ist das Aufsteigen etwas mühsam und ich habe mich ein paar mal mit dem Absatz im Unterrock verfangen, aber das Fahren selbst ging dann gut und mein Rock hat sich auch nicht in den Speichen verfangen. Problematisch eher Hut und Schirm, dafür war zu viel Wind, so dass ich den Schirm auf den Gepäckträger verbannt habe, um eine Hand frei zu haben, um im Zweifelsfall meinen Hut festzuhalten. Das Korsett selbst war gar kein Problem, vielleicht bin ich komisch: aber ich finde das nicht einengend (war allerdings auch nicht sehr fest geschnürt) sondern durchaus angenehm.
Richtige Probleme hatte ich dann erst zuhause, wo weder Familie, noch Zofe noch irgendwelche Nachbarn da gewesen wären, um mich aus der Bluse zu befreien. Letztendlich musste ich das hintere Bindeband der Bluse durchschneiden, sonst hätte ich in Kleidern schlafen müssen.
So, und jetzt gehe ich mir anschauen, wie praktisch oder unpraktisch die anderen Damen beim MeMadeMittwoch heute angezogen sind.